Dienstag, 15. September 2020

#femtember 2020: Dystopie und Feminismus - Wie passt das zusammen?



Wie wird sich unsere Gesellschaft irgendwann mal entwickeln? Extrem gedacht: Sehen wir eine Utopie vor uns? Oder doch eher eine Dystopie mit totalitärem Regime und allem? Die drei Autor*innen, deren Bücher ich heute vorstelle, haben sich mit dieser ersten Frage literarisch auseinandergesetzt und sehr düstere Zukunftsvisionen entworfen. Der Fokus der folgenden Geschichten liegt auf den Frauen*, welche Rechte und Freiheiten sie haben oder nicht haben, welchen Platz sie in der Gesellschaft einnehmen, welche Rolle sie spielen. "Der Report der Magd", "VOX" und "Die Gabe" setzen sich mit feministischen Themen auseinander und geben gleichzeitig eine Warnung, dass nichts, was man als "normal" sieht, auch immer so bleiben muss.

Der Report der Magd und Die Gabe sind Teil der our shared shelf-Liste 

 
Gebärmaschinen
Rechte, die ich als Frau immer auf Messers Schneide sehe, sind die, bei denen es um meinen Körper und um meine Fähigkeit zur Reproduktion geht (Femizide, Abtreibungsgegner*innen, schwieriger und teurer Zugang zu Verhütung etc.) Über beides möchte ich frei und selbstbestimmt entscheiden können. Im fiktiven, christlich-fundamentalistischen Staat Gilead haben Frauen diese Rechte nicht. Sie werden nach ihrer Fruchtbarkeit in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Alles dreht sich ums Kinderkriegen.
 
Margaret Atwood schildert in ihrem Roman "Der Report der Magd" aus Sicht der Magd Desfred, wie diese zur "Gebärmaschine" ausgebildet wird und für andere Paare Kinder bekommen soll. Durch eine atomare Katastrophe wurden viele Frauen unfruchtbar und so müssen die wenigen Ausnahmen diesen "Dienst" an der Gesellschaft verrichten. Mägde werden Kommandanten und ihren Ehefrauen zugeteilt, damit die Kommandanten unter Aufsicht der Ehefrauen die Mägde schwängern können, um eigene Kinder zu bekommen. Romantisch ist das in keinster Weise.

Die anderen Frauen sind entweder Marthas (Haushälterinnen), Ehefrauen von Kommandanten (höher gestellte Männer), Tanten (sie bilden die anderen Frauen aus), Ökonofrauen (Frauen von niedriger gestellten Männern) und Unfrauen (Frauen, die sich nicht ins System integrieren wollen. Sie werden in Arbeitslager gesteckt). Jede Frauengruppe trägt in der Öffentlichkeit eine bestimmte Farbe, damit die sofort erkennbar sind. Mägde rot, Marthas grün, Ehefrauen blau, Tanten braun und Ökonofrauen gestreift. Frauen dürfen nicht lesen und nicht schreiben, mit Ausnahme der Tanten, und sollen so wenig wie möglich sprechen. Es sind alle sehr fromm.
Eingeprägt hat sich mir dieser Absatz:
 
Es gibt mehr als nur eine Form von Freiheit, sagte Tante Lydia, Freiheit zu und Freiheit von. In den Tagen der Anarchie war es die Freiheit zu. Jetzt bekommt ihr die Freiheit von. Unterschätzt sie nicht. (S. 39) 
 
Diese "Freiheit von" entsteht unter dem Deckmantel der Sicherheit für die Frauen. Die Frauen sind zukünftig frei von den Sorgen, die ein selbstbestimmtes Leben mit sich bringt. Sie müssen sich nicht mehr um ihren Platz in der Welt kümmern, das entscheiden andere für sie. Sie sind auch frei von den lüsternen Blicken der Männer, von potenziellen männlichen Angreifern, von Vergewaltigungen etc. Solche Maßnahmen werden von der Bevölkerung anfangs unterstützt. Nur waren die Herrscher eben dann doch sehr radikal mit ihren Veränderungen. Aber auch den Männern steht es in der neuen Ordnung nicht unbedingt frei zu wählen, wen sie lieben/begehren dürfen, was sie besitzen dürfen, wo sie hingehen dürfen. Alles sehr kompliziert in der vermeintlichen Einfachheit und nicht menschenfreundlich, sondern einschränkend und unterdrückend. 
 
Der Report der Magd ist wirklich sehr zu empfehlen. Ich mochte die Erzählperspektive der Magd Desfred sehr gerne, da sie nicht als Heldin dargestellt wird, sondern einfach ihr Dasein beschreibt. Viele Informationen zum Einordnen in ein großes Ganzes bekommt man anfangs jedoch nicht und es ist schwer nachzuvollziehen, wie es überhaupt zum Staat Gilead kommen konnte. Ein Merkmal feministischer Dystopien ist die Möglichkeit eines Aufstandes, einer Untergrundorganisation, rebellischer Hilfe, um aus dem System ausbrechen zu können. Das gibt es in diesem Buch, auch wenn Desfred sich mehr fügt als rebelliert. Die Fortsetzung „Die Zeuginnen“ ist eine wichtige Bereicherung zum Report. Vieles wird verständlicher und nachvollziehbarer. 
 
 
 
Weibliches Schweigen
Wenn du nur mehr 100 Wörter pro Tag sprechen darfst, was sagst du dann? Im Buch "Vox" von Christina Dalcher bekommen Frauen und Mädchen Armbänder, sogenannte Wortzähler, angelegt, die die Anzahl ihrer gesprochenen Wörter zählen. Überschreiten sie die 100, bekommen sie Stromschläge verpasst, die sich immer stärker intensivieren, je mehr sie sprechen - bis zum Tod. Kleinkinder sind nicht ausgenommen. Wie schon im "Report der Magd" wird der weiblichen Bevölkerung das Lesen und Schreiben verboten. Jetzt sagt man vielleicht: "Ja, dann sollen sie eben Handzeichen oder Gebärdensprache verwenden, um zu kommunizieren." Nur, das ist ebenfalls nicht erlaubt und es herrscht hier ein großes Netzwerk an Denunziationen.
 
Die neue rechtskonservative, christlich-fundamentale Regierung in den USA nimmt den Frauen nach und nach ihre Rechte, um den Männern endlich wieder mehr bieten zu können, Frauen haben ihnen schon viel zu viel an Macht weggenommen. Es gibt für Frauen und Mädchen keine Pässe mehr, keine Computer, alle Bücher werden ihnen weggenommen. Linguistin Jean darf ihren Beruf nicht mehr ausüben, ihrer Tochter wird nur mehr das Haushaltführen in der Schule beigebracht. Herd und Heim sind ihre neuen (alten) Hoheitsgebiete. Ihre Söhne und ihr Mann haben keine Einschränkungen, müssen aber mit einer Mutter und Frau leben, die kaum noch spricht. Kann man da noch eine Familie sein? Jean bekommt im Laufe der Geschichte die Möglichkeit als einzige etwas gegen die Ungerechtigkeiten zu unternehmen. Kann sie es schaffen?
 
Die wichtigste Message aus diesem Buch ist: Geht wählen! Jede*r kann mit der eigenen Stimme viel erreichen und man sollte sich sehr gut überlegen, wen man in Machtpositionen sehen möchte. Politisches Interesse zahlt sich immer aus, da es jede*n von uns betrifft!
Vox beginnt sehr gut, kann aber das hohe Niveau der ursprünglichen Idee nicht halten. Schon bald verliert sich die Autorin in Nebensächlichkeiten und einer Liebesgeschichte, die es nicht braucht. Der Plot hat für mich einige Schwächen und keine gut ausgearbeiteten Charaktere. Vieles ist überzogen und klischeehaft dargestellt. Es gab zum Beispiel anscheinend Proteste gegen die Regierung, dort waren aber nur Frauen und schwule Männer. Als würden sich nur schwule Männer für Frauenrechte interessieren. Dalcher lässt ihre Protagonistin zwar kritisch denken und auch Fehler machen, wenn sie aber dann anfängt andere Frauen als Schlampen zu beschimpfen, dann schießt das über das Ziel hinaus, denn sich gegenseitig schlecht machen bringt niemanden weiter und zählt als gängige Methode, Konkurrenzdenken zwischen Frauen anzufachen. Das Patriarchat wird auch von Frauen reproduziert und ist nicht an einem Geschlecht festmachbar, sondern als System zu denken. So richtig schaffte es Dalcher nicht, eine tiefergehende, feministische, Sprache reflektierende Geschichte zu schreiben.
 
 
 
Frauen an die Macht
Aus dieser Reihe sticht eindeutig der Roman "Die Gabe" von Naomi Alderman hervor. Sie dreht den Spieß nämlich um und unterdrückt nicht die Frauen, sondern die Männer. In den Frauen erwacht plötzlich eine elektrische Energie, die sie gezielt aussenden können, und sie werden somit den Männern körperlich überlegen. Nach und nach nehmen sie die wichtigsten Positionen und Ämter in der Weltgeschichte ein. Erzählt wird aus mehreren Perspektiven, hauptsächlich Mädchen/Frauen, die auf unterschiedliche Weise das Erwachen der Energie und den darauffolgenden gesellschaftlichen Umbruch miterleben. Diesmal erfährt man die Sichtweise der herrschenden Seite. Da die Autorin den Spieß umdreht, wird deutlich, mit welchen Problemen und Grausamkeiten Frauen täglich zu tun haben. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, hat sie es wirklich geschafft, die prekären Verhältnisse der Frauen, die weniger privilegiert sind, auf interessante Weise darzustellen. 
 
Durch die Umverteilung der Macht kommen Themen wie Frauenhandel, Prostitution, Vergewaltigung und Unterdrückung zur Sprache. Später auch Frauen in Führungspositionen, Menschen, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen/können, verschiedene Rollenbilder, patriarchale Strukturen. Alderman spricht sehr viele feministische Themen an, kratzt dabei aber leider oft nur an der Oberfläche. Feministisch bedeutet für mich auch immer, dass sowohl Frauen als auch Männer vom Patriarchat befreit werden. Wenn dann Frauen ein Matriarchat aufbauen, das wie das Patriarchat funktioniert, sehe ich das nicht als feministisch, sondern als Reproduktion des alten Systems. Aber es wäre wohl keine Dystopie, wenn das neue System für alle Menschen gut funktionieren würde.
Vom Aufbau her ist der Roman etwas verwirrend, vieles geht in Zeitsprüngen verloren und die Entwicklungen sind nicht immer so nachvollziehbar. Die Charaktere bleiben dadurch auch sehr blass und unnahbar.

Zum Weiterlesen
Mit dem weiblichen Schweigen und dem Kinderkriegen hat sich Rebecca Solnit in ihrem Buch "Die Mutter aller Fragen" beschäftigt, wo sie in Essays beidem auf den Grund geht. Natürlich beides in anderer Form und mit einem anderen Blickwinkel als sie in den vorgestellten Büchern vorkommen. Das Patriarchat als System wird in "Feministin sagt man nicht" von Hanna Herbst sehr gut beschrieben. Ihr Buch gibt generell eine gute Einführung in die wichtigsten feministischen Ansatzpunkte. 
Dystopien mit feministischen Inhalten sind seit der Serienadaption "The handmaid's tale" (Der Report der Magd) wieder in aller Munde. Und dann veröffentlicht Atwood 2019 nach 34 Jahren auch noch eine Fortsetzung zu dem feministischen Klassiker. Was so erschreckend an dieser Dystopie ist, ist, dass sie auch nach all den Jahren aktueller nicht sein könnte. Auch die neueren Werke greifen aktuelle Themen auf und halten uns vor Augen, wie schnell hart erkämpfte Rechte futsch sein können und was an einem Tag noch erlaubt war, am nächsten unter Höchststrafe steht. 
Einige Beispiele: Ungarns Präsident Orban nutzt die Corona-Krise und den ausgerufenen Notstand, um uneingeschränkt per Dekret zu regieren, was ihn bei Kritikern zum Diktator macht. Orban ist bekannt dafür, Menschenrechte nicht immer so ernst zu nehmen (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Orb%C3%A1n). In Polen haben Gemeinden eine LGBT-ideologiefreie Zone ausgerufen. Auch wenn das juristisch nicht durchseztbar ist, ist es auf jeden Fall symbolisch gemeint und versucht nicht heterosexuelle Menschen zu diskreditieren und auszuschließen (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/LGBT-ideologiefreie_Zone). Mit Donald Trumps Weltbild müssen wir uns leider auch viel zu oft auseinandersetzen. Mit seinem frauenfeindlichen und rassistischen Denken in seiner Machtposition als Präsident der USA ist er sehr gefährlich, da seine Ideologien bei vielen Menschen auf Zustimmung stoßen und sie ihr gewaltbereites, menschenverachtendes Verhalten damit legitimieren. 

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Femtembers, des feministischen Septembers, eine Aktion von Nico aus dem Buchwinkel. Einen ganzen Monat lang haben es sich Blogger*innen zur Aufgabe gemacht, vermehrt Posts zum Thema Feminismus zu veröffentlichen. Nico sammelt auf seiner Seite alle Beiträge der teilnehmenden Blogs. Also schaut mal bei ihm vorbei und stöbert bei den anderen Seiten rein.


2 Kommentare:

  1. Hey Anja =)
    Toller Beitrag zu feministischen Dystopien! Gelesen habe ich selbst nur den Report der Magd, aber "Die Gabe" hört sich sehr interessant an, das wandert auf meinen Wunschzettel.
    Ich finde es toll, dass du dich dieses Jahr wieder am #femtember beteiligst und habe deinen Beitrag auf der Übersichtsseite verlinkt. Ich hoffe, da sind auch für dich wieder einige neue Anregungen dabei. Als weitere feministische Dystopie kann ich dir übrigens wärmstens "Wasteland" von Judith C. Vogt und Christian Vogt empfehlen. Die Rezension dazu erscheint nächste Woche und mit Judith habe ich auch schon ein Interview zu gendergerechter Sprache geführt.

    Liebe Grüße,
    Nico

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    1. Hey Nico :)
      vielen Dank! Die Idee zu diesem Beitrag hatte ich schon länger, aber habe dann doch mehr Anläufe gebraucht als gedacht, um ihn auch zu schreiben.
      Vielen Dank auch fürs Verlinken ;) ich schau immer gerne bei dir rein und lese deine oder die Beiträge der anderen femtember-Teilnehmer*innen.

      Auf deine Rezi zu Wasteland bin ich dann mal gespannt, das Interview habe ich mit großem Interesse gelesen :D

      Liebe Grüße
      Anja

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